Physikalische Grundgesetze von Knochenschonern

Südsteirische Hügellandschaft
Südsteirische Hügellandschaft

Es ist ein bisschen wie Weihnachten.

Vielleicht nicht ganz so selten. In jedem Fall aber so rar, dass die Freude darauf noch immer gleich groß ist. Mittlerweile ist es ein schönes Ritual, das sich schon seit einigen Jahren wiederholt: Es beginnt mit einer Email an meinen Bruder Joe, der zwei Autostunden entfernt wohnt. Die Nachricht ist meist kurz: „Hast Lust und Zeit?“

Wenige Tage später, es ist 8.00 Uhr früh. Die Kälte des November Morgens hat den Nebel vom Abend zuvor vertrieben. Es scheint die Sonne, doch sie steht tief. Um diese Uhrzeit wird gerade das obere Drittel einer Hangseite ausgeleuchtet. Pünktlich ist das Brummen des Dieselmotors von Joe’s Wagen zu hören. Ich haste eilig ins Badezimmer und suche ein Frisierwerkzeug. Ich versprach, um diese Zeit würde ich fertig „kampelt und geschneutzt“ sein. Es gibt aber keinen Grund für Stress. Mutters Filterkaffee wird fast kommentarlos gemeinsam genossen.

Joe Wallmann studiert Stufentechnik eines Starrrahmenfahrers, Image: Kunz
Joe Wallmann (l) studiert die Stufentechnik des Starrahmenfahrers Alfred (r), Italien 2011, Image: Kunz

Bandscheiben-Shocker

Die letzten zwei Jahre war ich ausschließlich mit einer BSA Bantam D3, einem Oldtimer aus dem Jahr 1954 unterwegs. Das Hinterrad wird nur durch den niedrigen Luftdruck gefedert, eine Schwinge oder sonstige Beweglichkeit des Hinterrades hatten die Konstrukteure nicht eingeplant. Das Vorderrad erfreut sich eines tatsächlichen Federweges von wenigen Zentimetern. Jegliche Form der Dämpfung ist verflogen, wenn sich das einpresste Fett nach einem Durchschlag von der Stahlfeder verabschiedet hat. Glücklicherweise gleicht der brustschwache 150ccm Motor mit Dreiganggetriebe aus der gleichen Epoche dieses Manko aus. Wheelspinning (Durchdrehen von Rädern) ist mir völlig fremd. Das Reifengummi wird von den schwachen Halbnarben-Bremsen auch nur wenig beansprucht.

Schöne Youngtimer: Beta Techno 1994+1998 und Scorpy Easy 1999
Schöne Youngtimer: Beta Techno 1994+1998 und Scorpa Easy 1999

Youngtimer-Collection

Bei der Wahl des Untersatzes experimenterie ich. Erstmals seit langer Zeit will ich es wieder mit einem Schaukelmoped versuchen, oder einem Knochenschoner, wie es Joe nannte. Im Frühjahr dieses Jahres hatte Adi, der Cheftechniker von Adamec-Racing persönlich, meinen letzten Trial-Zugang generalüberholt: eine Scorpa Easy 280 mit dem letzten Rotax-Trialmotor aus dem Jahr 1999. Joe geizt auch nicht mit Reizen und bringt eine Überraschung mit. Am Anhänger steht eine unlängst von ihm erworbene und bearbeitete Beta Techno Bj. 1994 mit Teilen einer Dougie Lampkin Replicavon 1998 veredelt. Eine schöne Überraschung!

Schlanke Taille der Scorpa Easy 280
Schlanke Taille der Scorpa Easy 280

Schönheit muss leiden

Die Scorpa stand seit dem Frühling unangerührt in der Garage. Für alle Fälle brachte Joe ein Ersatzmoped mit. Als die Scorpa Easy am Markt erschien, wurde die wohl schlankste Taille eines Motorrades beworben. Die Werbefotos von damals lassen keinen Zweifel daran, dass die Leute von Scorpa sichtlich stolz darauf waren. Allerdings liegt wohl auch deshalb der Auspuff genau vor dem Jokerhebel des Vergasers. Es ist unmöglich, da mit Handschuhen ran zu kommen. Schönheit muss leiden. Der Vorbesitzer hat diesen Umstand mit einem einfachen Kabelbinder gelöst, der nun bequem von der anderen Seite aus gezogen werden kann. Nur wenige Kicks später läuft der Motor. Alles Easy! Der Sound erinnert mich irgendwie an die Aprilia Climber, meinem ersten Trialmotorrad. Die Beta Techno läuft mit dem ersten Kick. Joe und Beta sind ein vertrautes Team, das sieht man. Worauf lange warten, es geht gleich Offroad!

Südsteiermark im Herbst
Südsteiermark im Herbst

zu Hause

Wir befinden uns in einem Graben. Die umliegenden Hügel sind nicht hoch, es sind wohl weniger als 100 Höhenmeter Differenz. Doch die kleinen Bäche haben ihr Bett tief eingeschnitten. Die Hänge fallen steil ab. Der dichte Mischwald verhindert nicht immer, dass die Erde aufweicht und komplett abrutscht. Das Laub ist fast vollständig abgefallen. Mulden und Gräben im Boden sind oft verdeckt und teilweise nur schwer erkenntlich. Das Laub bindet die Feuchtigkeit an der Oberfläche. Alles ist nass und rutschig. Passagen, die im Sommer anfängertauglich sind, sind nun eine Herausforderung für Experten.

Endlich Pause!
Endlich Pause!

Biblischer Anfang

Ich taste mich mal langsam an die neuen Eindrücke heran. Ganz vorsichtig, ein paar enge Kehren und Achter in der Ebene, mit und ohne Kupplung. Gas und Kupplungsreaktionen sind kein Problem. Oups, das Ding bleibt ja wirklich stehen, wenn die rechte Armatur gezogen wird. Die Easy wurde zwar aus England importiert, aber der Fußbremshebel ist trotzdem rechts, daran habe ich mich aber rasch gewöhnt. Joe wärmt sich gerade am Steilhang rechts auf, ich gehe es lieber bescheiden an. Nur mal die Böschung hoch, queren – denkste! Moped steht seitlich im Hang mit drehendem Hinterrad aber ohne jegliche Lust auf eine Vorwärtsbewegung. Nochmal! Diesmal etwas schneller, hoch, queren – denkste! Moped steht im Hang mit seitlich abgerutschtem Vorderrad voll eingebremst. Halleluja! Ich fange bei Adam und Eva an. „Joe, komm‘ bitte runter, lass‘ uns gemütlich diesen Weg hochfahren. Ich versuche mal eine neutrale Position über die Längsachse des Mopeds zu finden.“ Der Weg ist steil. Ich gebe Gas, ich drehe ab, ich gebe Gas, ich drehe ab. Der Rotax kommt, lässt nach, kommt und lässt nach. Leistung ist ausreichend da. Ich muss mir die binären Gasstellung (Vollgas – Leerlauf) der Bantam abgewöhnen und mich im „fein Dosieren“ üben. Auf einem Stammplatz, einem kleinen Plateau zwischen zwei Hohlwegen mit schönen Stufen gibt es nach einer Fahrzeit von sicher mindestens fünf Minuten glücklicherweise die erste Pause für eine Besprechung.

Alles Lehrer, oder was? Joe.
Alles Lehrer, oder was? Joe.

Freiheit der Gedanken

Moped läuft, alles Easy. Aber ich komme mir vor wie der erste Mensch. Joe versucht zu beruhigen und meint unterstützend, „Du bist etwas zu langsam“. Ich rege mich innerlich furchtbar auf und denke mir: „Was will der Aff‘ von mir? Zu langsam? Wie ein Schianfänger ziehe ich da gerade im Stemmpflug meine Schwünge und der Kerl will mich auf die Großschanze schicken?. Der Typ ist Lehrer. Da kann man doch etwas pädagogisches Verständnis erwarten, oder?“ Doch die innerliche Empörung verfliegt rasch, die Vernunft siegt über die Furcht vor dem Highspeed einer Trial bei Standgas im zweiten Gang. Hoppala, da schaut die Welt doch schon viel sonniger aus. Der Lehrer hatte Recht, ich nehme den „Aff“ zurück. Ich bin froh, dass er nie erfahren wird, was ich mir so denke.

Joe zeigt es vor: alles EASY!
Joe zeigt es vor: alles EASY!

1+1=speed

Ich sammle Selbstvertrauen und erklimme die ersten Stufen. Doch die Katze lässt das Mausen nicht, ein Lehrer schult. Ganz allgemein erläutert er physikalische Grundgesetze, erklärt Phänomene wie Haftungsreibung und Bewegungsimpulse. Und ganz nebenbei weist er darauf hin, dass auch der stärkste Rotax schon etwas Geschwindigkeit vor einer Stufe braucht. Aber mit mir hat das jetzt natürlich gar nichts zu tun. Dank meiner analytische Fähigkeiten kombiniere ich diese allgemeinen Erklärungen mit meinen persönlichen Eindrücken und stelle fest: Mit dem Alteisen ist das einfacher: In den Wald rein, Vollgas, dann reicht der Schwung für die Stufe bei der Waldausfahrt. Die Scorpa hat Dampf, schön langsam gewöhne ich mich daran. Ich würde sogar sagen, die Angst weicht, der Respekt bleibt! Doch ich räume der Scorpa immer mehr Reserven ein, vieles wird tatsächlich easy.

Die Federung, Heil oder Fluch?
Die Federung, Heil oder Fluch?

strafrechtlich bedenkliche Technik

Wir fahren in einem engen Bachbett. Vor uns ist eine kleine Stufe abwärts über ein schräg liegendes und nasses Baumfragment. Dahinter sind einige aufragende Steine. Nichts Aufregendes, eigentlich nicht einmal eine Erwähnung wert. Aber ich treffe die geplante Spur nicht wie gewollt und setze das Vorderrad direkt vor einen dieser Steine. Für Starrahmenfahrer mit Alibi-Gabel stellt das eine Situation höchster Not dar. Das Vorderrad müsste blitzschnell komplett entlastet werden. Die Feder der Gabel würde lautstark den Durchschlag vermelden. Das Vorderrad würde gegen den Stein knallen und mit der Vehemenz eines brünftigen Ziegenbocks hoch springen. Zeitgleich würde dabei das Hinterrad belastet sein, das Körper-Gewicht wäre aufgrund der Abwärts-Stufe noch hinten. Aber da würde sich nun gerade dieses seitlich abgeschrägte und nasse Holz befinden. Der vertikale Bewegungsimpuls des Vorderrades würde durch das horizontale Eigenleben des Hinterrades an zusätzlicher Dynamik gewinnen.

Da steht nun das Vorderrad der Scorpa exakt vor einem dieser Steine. Reflexartig schießt mein Oberkörper wie eine Cruise Missile über den Lenker nach vorne, um den vertikalen Interessen des Vorderrades Einhalt zu gebieten und das Hinterrad zu entlasten. Das Rad läuft gegen den Stein. Doch die Gabel macht indes was eine Gabel halt so macht. Der Stein wird einfach geschluckt, als wäre er gar nicht existent. Am Lenker ist nichts zu spüren. Keine Kräfte wirken ein. Keine Momente sind feststellbar. Der Bewegungsenergie der Rakete werden keine Widerstandskräfte entgegengesetzt. Ich bin heilfroh, dass die Böschung so steil ist. So kann ich einen unansehnlichen Bewegungsablauf vermeiden, indem ich mich nur etwas seitlich an die Landschaft anlehne. Ich lerne: „Fahrwerk“ kommt daher, dass etwas „beim Fahren werkt“. Das ist für mich ungewohnt. Ich frage mich, ob denn solche technische Vorrichtungen nicht den Straftat-Bestand von „Betrug am Gelände“ darstellen und judizierbar wären? Wofür hat uns der Herrgott sonst all die schönen Wurzeln und Steine geschenkt?

Wohlfühl-Technik: Techno-Starre!
Wohlfühl-Technik: Techno-Starre!

Waldläufer

Wir streifen durch unser Revier, wie Wanderer. Zweimal finden wir besonders schöne Geländeprofile. Joe zeigt vor, was er mit Gasabdrehen in der Stufe meint. Wir machen einige Wiederholungen, Analysen und finden auch spannende Perspektiven für Fotos. Die Scorpa habe ich von einem Verkäufer aus Mittelengland gekauft. Sie ist auffallend weich abgestimmt, ideal für schlammig-rutschigen Untergrund. Seit dem Kauf wurde lediglich ein technisches Service durchgeführt. Von Feineinstellungen ist keine Rede. Joe und ich tauschen erstmals die Mopeds. Ich merke, die Beta wird gefahren, sie ist sehr gut eingestellt. Ich fühle mich sofort wohl darauf. Die Techno wirkt agiler und wendiger als die Scorpa. Joe lacht, als ich ihm das sage. „Naja, ich habe die hintere Federung auch ziemlich steif eingestellt“. Aha, die Starrrahmen-Reflexe werden hier scheinbar besser bedient. An Passagen mit mehrfachen Wiederholungen, wird zum Abschluß jedes Mal das Laub wieder zu Recht gerückt bevor wir weiterfahren. Nur ein Waldläufer könnte unserer Spur folgen.

Beta Techno, schöner Youngtimer mit großem Spaßfaktor
Beta Techno, schöner Youngtimer mit großem Spaßfaktor

Over and out, oder besser Apfelstrudel and out

Wir beginnen damit, fahrtechnisches Feintuning zu machen, es wird trainiert. Ich arbeite zu sehr aus den Schultern heraus. Die Hüfte sollte aktiver in die Balance-Arbeit eingebunden werden. Ich bekomme ein Bild der Soll-Bewegung und versuche diese zu realisieren. Das macht sich aber rasch bemerkbar. Leider nicht nur so wie erhofft. Neue Muskelpartien werden beansprucht. Schmerzen in der Schulter und ein verspannter Rücken regen dazu an, sich Gewissheit betreffend der Uhrzeit zu verschaffen. Es ist mittags. Ich habe genug. Die Vollpension des Hotel Mama wartet auf Ihre Gäste. Und bei diesem Apfelstrudel wird auch der Filterkaffee aus der Thermoskanne komplett kommentarlos genossen.

 

Ja, diese Treffen sind ein bisschen wie Weihnachten.

Zum Glück nicht ganz so selten.

 

Alfred, Nov. 2012

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